Zusatzkapitel

Der Kreis schließt sich mit den nachfolgenden Kapiteln – das bisher unveröffentlichte Ende des Buches „Silva & Baal“ – eine Geschichte, bei der ihr vielleicht das ein oder andere Taschentuch bereithalten solltet.

ACHTUNG! Die folgenden Kapitel enthalten SPOILER. Wenn ihr „Silva & Baal“, „Bitter & Sweet“ und „Bitter & Bad“ noch nicht gelesen habt, solltet ihr das erst nachholen.

England – Juni 2000

Silva

Als Silva von ihrer Veranda aus auf den Garten blickte und die Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht genoss, lächelte sie wehmütig. Unwillkürlich musste sie daran denken, welches Glück ihr die letzten Jahre beschieden war. Fünfundzwanzig Jahre war sie nun schon mit Baal verheiratet, auch wenn in der Realität kaum mehr als zehn Jahre vergangen waren. Der ständige Wechsel zwischen Unterwelt und Realität hatte zumindest dahingehend etwas Gutes, denn es hatte ihnen mehr Zeit gemeinsam verschafft. Und als Silva so darüber nachdachte, musste sie zugeben, dass es fünfundzwanzig schöne Jahre gewesen waren.

Freilich war die erste Zeit nicht einfach gewesen. Baals Verkündung in der Unterwelt, dass er eine Hexe aus der Realität heiraten würde, war nicht immer auf Verständnis getroffen. Viele seiner Verbündeten hatten sich offen gegen diese Beziehung ausgesprochen und Baal hatte zunächst einiges an Ansehen verloren. Mit der Heirat hatte aber Silva auch einiges an Einfluss gewonnen und war als Lady eine Person, der zumindest das einfache Volk zu gehorchen hatte. Undenkbar für die meisten Dämonen. Baal hatte immer zu Silva gestanden und auch im Schloss und bei Baals Bediensteten war sie vorurteilsfrei aufgenommen worden. Irgendwann war auch dieser Skandal verebbt, spätestens als klar wurde, dass Silva keinerlei Interesse pflegte, sich in die Politik der Unterwelt einzumischen.

Im Gegenteil, mittlerweile achtete man sie in Ignis Tenebris und schon bald sprach sich Silvas Gutmütigkeit herum. Auch wenn Baal es lieber gesehen hätte, sie würde während des Aufenthaltes in der Unterwelt im Schloss bleiben, ließ sich Silva nicht davon abhalten, regelmäßig die Stadt zu besuchen. Anfangs hatte sie sich darauf beschränkt, sich alles anzusehen, doch schon bald war sie ins Gespräch mit den Stadtbewohnern gekommen. Sie erkundigte sich nach den Zuständen und erfuhr einiges über die Bedürfnisse der Bewohner, was Baal bisher verborgen geblieben war. Abends unterhielten sie sich lange darüber, was Silva herausgefunden hatte, und Baal tat sein Bestes, um ihre Verbesserungsvorschläge umzusetzen und das Leben der Stadtbewohner zu erleichtern. Und so war Silva eine Art Sprachrohr für die Sorgen der Dämonen aus Ignis Tenebris geworden, eine direkte Verbindung zu ihrem Fürsten, was die Stadtbewohner schon nach kurzer Zeit durchaus zu schätzen wussten.

Wann immer Silva in der Stadt auftauchte, brachte sie Süßigkeiten aus dem Schloss für die Kinder mit oder verteilte Essen an die Dämonen, die keinen Zugang zu einem der Gewächshäuser hatten und davon lebten, andere um Essen anzubetteln oder zu bestehlen. Das hatte schließlich endgültig dazu geführt, dass niemand in Ignis Tenebris mehr daran Anstoß nahm, dass sie eine Hexe war. Silva freute sich immer darüber, wenn ihr die Dämonen der Stadt dankten oder versicherten, dass ihr Auftauchen das Leben in der Stadt ein klein wenig besser gemacht hatte. Denn so hatte sich für Silva endlich eine neue Lebensaufgabe ergeben, der sie sich widmete. Gemeinsam mit Baal versuchte sie, die Unterwelt zu einem besseren Ort zu machen. In kleinen Schritten, aber sie zeigten durchaus Wirkung.

Baal und Silva hatten tatsächlich eine gute Lösung gefunden, so viel Zeit wie möglich gemeinsam zu verbringen. Oft mussten sie lange Zeit in der Unterwelt bleiben, im Schloss oder in dem Haus, das Baal extra für Silva in der Unterwelt hatte bauen lassen, fernab des Trubels der Stadt. Während Baal seinen Geschäften nachging, half Silva im Schloss aus oder kümmerte sich um die Stadtbewohner. Doch wann immer es die Zeit zuließ, zogen sich Silva und Baal hierher in die Realität zurück.

Silva genoss diese Zeit am meisten. Das Haus, das sie gekauft hatte, lag tief im Wald und fernab von Nachbarn, was ihnen die nötige Ruhe verschaffte, um Zeit mit der Familie zu genießen. Silva nutzte die Tage in der Realität vor allem dazu, Sonne zu tanken oder Kontakt zu ihrer Schwester zu halten, die Baal offiziell als William Benett kennengelernt hatte. Da Baal ebenfalls die Biokinese benutzen konnte, fiel es ihm nicht schwer, seine dämonenblauen Augen zu verändern und als Normalsterblicher aufzutreten. Amalia war begeistert von Silvas Mann und freute sich ehrlich für ihre Schwester.

Und dann plötzlich war Silva schwanger. Nachdem sie und Baal so viele Jahre miteinander verbracht hatten, ohne, dass sich in dieser Richtung etwas getan hatte, glaubten sie ihre Annahme bestätigt, dass Dämonenfürsten und Hexen keine gemeinsamen Kinder zeugen konnten. Umso überraschter war Silva, als die morgendliche Übelkeit und der leicht gerundete Bauch keine Zweifel mehr ließen.

Als Baal erfuhr, dass Silva ihr erstes Kind erwartete, war er aus allen Wolken gefallen. Natürlich hatte er sich gefreut, doch hatte er auch einige Bedenken gehabt, die nicht ganz unbegründet waren. Bisher gab es keine Erfahrungsberichte zu Kindern, die aus der Verbindung von Dämonenfürsten und Hexen entstanden waren. Und die Tatsache, dass die Mairas eine Ausgeburt von niederen Dämonen und Normalsterblichen waren, bereitete ihm von Anfang an Sorge. Doch Silva hatte vom ersten Moment an gewusst, dass das Kind, das in ihrem Leib heranwuchs, etwas Besonderes war und rein gar nichts Böses an sich hatte.

Und tatsächlich war wenige Monate später ein rosiger Junge geboren, der die Herzen aller Schlossbewohner im Sturm erobert hatte. Cherufe.

Silva hatte eine Weile gebraucht, bis sie sich mit dem Namen anfreunden konnte, doch als Baals Sohn war Cherufe der offizielle Nachfolger des Thrones und ein Name, der den Dämonen bekannt war, würde seine Stellung festigen, auch wenn er nur ein Halbdämon war. Schließlich hatten sie sich auf den Rufnamen Chaz geeinigt, mit dem auch Silva leben konnte.

Was Baals Nachfolge anging, so hoffte sie, würde noch viel Zeit vergehen, bis Chaz sich dazu entscheiden musste, ob er sie überhaupt antreten mochte. Bis dahin versuchte Silva, ihrem Kind ein so normales Leben wie möglich zu bieten, was sich in der Realität als nicht ganz einfach herausstellte. Chaz hatte viele dämonische Eigenschaften, angefangen bei den blauglühenden Augen, die er noch nicht bewusst verändern konnte. Zudem war seine Magie eine Herausforderung, die Silva viele schlaflose Nächte bereitet hatte.

Während sich bei Hexen die Magie meist erst richtig im Teenageralter herausbildete, waren Dämonenkinder bereits früh dazu fähig, ihre Magie einzusetzen. Chaz hatte schon im Alter von zwei Jahren nicht selten mitten im Sommer den ganzen See ein Stück weit den Wald hinein eingefroren, weil er es liebte, auf dem Eis zu schlittern. Einmal hatte er geniest und dabei Silvas ganze Küche angezündet. Ein anderes Mal hatte sie ihm die Haare geschnitten, nur um am nächsten Morgen zu sehen, dass er sie dank der Biokinese hatte nachwachsen lassen – bis zur Hüfte.

Die Veränderung seiner Gestalt war generell etwas, worin Chaz sehr begabt war. Er hatte es einmal geschafft, seine Beine fast gänzlich in Luft aufzulösen, was wahnsinnig hohe Magie war, wie Baal ihr stolz erklärte, auch wenn es ein Versehen gewesen sein mochte und Chaz vermutlich keine Ahnung hatte, wie ihm das gelungen war. Und auch wenn Silva mittlerweile kaum noch erschrocken war, wenn er plötzlich mit blau-lila gesprenkelter Haut oder grünen Haaren vor ihr stand, so war doch schnell klar, dass Chaz zunächst seine Magie kontrollieren lernen musste, bevor sie ihm die Realität gänzlich zeigen konnte. Und so hatte sie schweren Herzens auch vor Amalia die Geburt ihres Kindes verschweigen müssen.

Chaz wuchs die meiste Zeit in der Unterwelt auf, wo man an die magischen Unfälle der Kinder gewöhnt war und wo sich insbesondere Jenna als Segen bei Cherufes Erziehung herausgestellt hatte. Silva war dankbar für jeden einzelnen Tipp, den ihr die Haushälterin gab, schließlich gab es weit und breit keinen Erziehungsratgeber in der Realität, der sich mit dem Großziehen eines kleinen, lebhaften Dämons beschäftigte.

Zwei Jahre später kam dann ihre Tochter zur Welt, und Jillian war wider Erwarten vollkommen anders als Chaz. Schon kurz nach der Geburt sah sie Silva mit sommergrasgrünen Augen an, die rein gar nichts Dämonisches an sich hatten. Offensichtlich war es unterschiedlich, wie viel dämonische Magie vom Vater vererbt wurde. Doch das tat Baals Liebe zu Jillian absolut keinen Abbruch und er war unübersehbar maßlos stolz auf seine Tochter. Aber dann hatte sich mit jedem Tag die Farbe von Jills Augen geändert. Sie wurden blauer, leuchtender. Silva und Baal hatten sich zunächst keine Gedanken darüber gemacht, doch dann begannen kleine Pranafunken über Jills Haut zu gleiten, als sie gerade erst eine Woche alt war.

Selbst Baal, der in der Unterwelt groß geworden war, fand das beunruhigend. Laut seiner Ausssage hatte Jill ein bedenkliches Maß an Dämonenmagie, das sie unmöglich in so frühem Alter kontrollieren konnte. Sie wurde zu einer Gefahr für sich selbst und für andere.

Bevor Baal schließlich Jills dämonische Magie in ihrem Inneren in einer Kapsel wegschloss, glänzten die Augen des Säuglings beinahe wie der schwarze Nachthimmel. Seine Entscheidung war richtig gewesen, und sie ermöglichte Jill, wie eine Hexe aufzuwachsen. Auch Amalia hatte Jill bereits kennengelernt und Silva war dankbar, ihrer Schwester wenigstens von diesem Kind erzählen zu können.

Silva war zufrieden. Auch jetzt wieder konnte sie kaum genug davon bekommen, Baal beim Spielen mit den Kindern zuzusehen. Jillian war mittlerweile fast drei Jahre alt und jagte lachend ihrem großen Bruder hinterher, der immer wieder blaue Funken in die Luft schoss, um seine Schwester zu belustigen. Irgendwann musste Silva vermutlich auch Jill erklären, was es mit den Fähigkeiten ihres Bruders auf sich hatte, doch noch war sie zu klein, um es zu verstehen.

Selig lächelnd lehnte sich Silva auf der Hollywoodschaukel zurück und genoss den Anblick. Sie war glücklich. Glücklich mit dem Leben, dass sie seit 25 Jahren führte und glücklich mit ihrer Familie. Aber natürlich gab es kein Glück, das ungetrübt war. Im Laufe der Jahre hatten sie sich besonders in der Unterwelt immer wieder Feinden gegenüber gesehen, die nichts Gutes im Sinn hatten.

Leider hatte Baals Beziehung zu Silva auch unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Es war in der Unterwelt kein Geheimnis mehr, dass diese Beziehung nur durch die Existenz des Silax möglich war. Und der machte Silva und Baal zur Zielscheibe vieler Dämonen. Bisher hatten sie es geschafft, sich dagegen zu behaupten. Aber auch in der Realität waren sie nicht gänzlich unbehelligt und als Silva den silbernen Wagen in der Ferne entdeckte, der auf dem Feldweg zu ihrem Haus erschien, verdüsterte sich ihr Gesicht.

Annabell hatte Silva in den letzten Jahren noch mehr Besuche abgestattet, und jedes Mal wurde sie energischer. Aufdringlicher. Natürlich glaubte sie Silva kein Wort über die Zerstörung des Silax und hatte immer wieder versucht, Silva Informationen zu entlocken. Sie hatte sich eingeschmeichelt, dann hatte sie versucht, Silva zu erpressen, als das nicht funktionierte. Sie hatte ihr hinterherspioniert und gedroht. Nichts hatte Annabell unversucht gelassen und auch jetzt war sich Silva sicher, dass Annabells Besuch nichts Gutes bedeuten konnte. Das war schon das zweite Mal in diesem Monat, dass sie hier auftauchte. Offensichtlich war Annabells Geduld am Ende. Silva seufzte und stand auf, um Baal ein Zeichen zu geben. Der hatte den silbernen Wagen bereits bemerkt und nahm beide Kinder auf den Arm, um hinter dem Haus zu verschwinden.

Silva mochte sich nicht ausmalen, was passierte, wenn Annabell die dämonischen Augen ihres Sohnes entdeckte und eins und eins zusammenzählte. Bisher hatte Silva sie erfolgreich in dem Glauben gelassen, ihr Ehemann wäre ein Normalsterblicher, was sie zwar noch mehr in Annabells Ansehen sinken ließ, aber immerhin ihre Familie schützte. Als Baal mit den Kindern außer Sichtweite war, atmete Silva auf. Sie würde Annabell schon irgendwie abwimmeln. Doch alles in allem hatte Silva das Gefühl, dass sich dunkle Wolken am Horizont auftaten, und fragte sich unwillkürlich, wie lange das Glück, dass ihr so lange beschieden war, noch anhalten mochte.

Silva

Der Regen trommelte laut gegen die Fenster und trug nicht dazu bei, Silvas Unruhe zu mindern. Nervös lief sie in der Küche auf und ab, wobei sie immer wieder prüfende Blicke aus dem Fenster warf, wenn sie daran vorbei kam. Hatte sie richtig gehandelt? Vielleicht hätte sie ebenfalls verschwinden sollen. Aber was dann? Ein Leben lang auf der Flucht? Nein, das kam nicht infrage. Sie musste sich Annabell stellen und die Sache ein für alle Mal beenden.

Aber ganz wohl war ihr bei der Sache nicht. Annabell hatte bei dem gestrigen Besuch keinen Zweifel daran gelassen, dass sie es ernst meinte. Aus irgendeinem Grund war sich die einstige Freundin nun vollkommen sicher, dass Silva im Besitz des Silax war. Silva hatte diesen Vorwurf in den letzten Jahren nie bestätigt und Annabell war diesbezüglich immer unsicherer geworden. Silva hatte beinahe geglaubt, sie überzeugt zu haben. Doch Annabells Zweifel waren verflogen, sie hatte Silva klar aufgefordert, ihr den Silax auszuhändigen, und ihr ein Ultimatum gestellt.

„Du hast vierundzwanzig Stunden Zeit, es dir zu überlegen. Ich werde den Silax bekommen, ob du es willst oder nicht, selbst wenn ich aus dir herausprügeln muss, wo er ist. Oder ist es dir lieber, wenn die VO euer Haus durchsucht? Entscheide dich, Silva.“

Annabell hatte Silva schon oft gedroht, doch dieses Mal hatte etwas Siegessicheres in ihrem Blick gelegen. Silva hatte keine Angst, sich Annabell zu stellen, denn was ihre magischen Fähigkeiten anging, lagen sie auf Augenhöhe. Schlussendlich war es die Drohung gewesen, die Verborgenenorganisation einzuschalten.

Silva mochte ihr Leben in der Realität, und bisher hatte sie die Verborgenenorganisation davon überzeugt, sich gänzlich von ihren einstigen Forschungen abgewandt zu haben. Wenn Annabell nun wieder dafür sorgte, dass sie in den Blickpunkt der VO geriet, waren weder sie, ihr Mann, noch ihre Kinder sicher. Sie durfte keinesfalls riskieren, dass man Baal oder Chaz einen zweiten Blick schenkte, zumal noch niemand von Chaz wusste. Jill würde vermutlich problemlos als Hexe durchgehen, aber das idyllische Leben wäre ab diesem Zeitpunkt vorbei. Man würde sie regelmäßig beschatten lassen, vielleicht auch ab und zu eine Hausdurchsuchung durchführen. Das durfte sie nicht riskieren. Es wurde Zeit, endlich mit Annabell abzurechnen.

Natürlich konnte Silva der aufdringlichen Hexe nicht einfach den Silax aushändigen, zumindest nicht, ohne zu riskieren, dass Annabell eine Katastrophe damit auslöste. Doch den Silax zu zerstören, kam ebenfalls nicht infrage, denn für ihre Familie würde das eine Trennung auf ewig bedeuten.

Also hatte Silva einige Vorbereitungen getroffen. Erst vor wenigen Stunden hatte sie Baal und Chaz in die Unterwelt geschickt. Dort waren sie am sichersten, denn Silva traute Annabell durchaus zu, dass sie mit der gesamten Verborgenenorganisation anrückte und die Hausdurchsuchung gleich selbst vornahm, um an den Silax zu gelangen.

Vor allem Chaz durfte nicht zur Zielscheibe werden, und Silva hatte seit langem das Gefühl, dass er sich in der Unterwelt sowieso wohler fühlte. Er kam nun in ein Alter, in dem er die Unterschiede zwischen sich und den Menschen der Realität wahrnahm. In der Unterwelt war er unter seinesgleichen und hier mussten Silva und Baal ihm nicht ständig versuchen klarzumachen, dass er seine Magie nicht benutzen durfte.

Annabell würde sie sagen, dass ihr Ehemann auf Geschäftsreise war.

Baal war alles andere als erfreut gewesen über Silvas Entscheidung. Seit jeher hatte er das Bedürfnis, sie zu beschützen. Doch in diesem Fall würde er alles nur noch schlimmer machen, sollte Annabell herausfinden, dass er ein Dämon war. Nein, Annabell war Silvas Problem und sie würde sich selbst darum kümmern.

Silvas Blick wanderte zu dem Hochzeitsfoto von ihr und Baal, das auf dem Regal in der Küche stand. Unwillkürlich lächelte sie und beruhigte sich etwas. Egal, wie moralisch fragwürdig es war, dass sie den Silax seit so vielen Jahren benutzte und nicht zerstört hatte, es war etwas Wundervolles daraus entstanden. Silva hatte in Baal ihren Seelenverwandten gefunden und mit ihm zwei wunderschöne Kinder gezeugt. Niemand war zu Schaden gekommen. Was konnte daran falsch sein?

Silva dachte daran zurück, wie er sich von ihr verabschiedet hatte, bevor sie ihn in die Unterwelt schickte. Sein Kuss war so leidenschaftlich gewesen wie am ersten Tag, sein Blick so intensiv, als wolle er sich ihren Anblick für immer bis ins kleinste Detail merken und wie immer hatte er ihr ins Ohr geflüstert, wie sehr er sie liebte. Dämon hin oder her, Baal hatte ein gutes Herz, und er hatte es an Silva verschenkt. Nie hatte sie geglaubt, in ihrem Leben je ein solches Glück erfahren zu dürfen.

Doch das änderte nichts an seiner Herkunft und daran, dass niemand sonst aus der Realität je glauben würde, dass ein Dämon keine Ausgeburt der Hölle war.

Nachdem Baal und Chaz sicher in der Unterwelt gelandet waren, hatte Silva ihre Tochter Jillian zu Cassandra gebracht, zusammen mit dem Silax. Die Hellseherin würde wissen, was zu tun war, sollte Silva etwas zustoßen.

Silva hatte lange überlegt, was sie mit den Aufzeichnungen ihrer Forschungsreise in Afrika tun sollte. Sie ebenfalls zusammen mit dem Silax zu Cassandra zu geben, schien ihr zu gefährlich. Also hatte Silva auf der Heimfahrt noch einen Umweg in Kauf genommen, um ein sicheres Versteck zu finden, dass sich schlussendlich näher bei Annabell befand, als die je ahnen würde.

Damit waren sämtliche Anhaltspunkte, die die Verborgenenorganisation Silva zulasten legen konnte, beseitigt. Sollte Annabell doch kommen, sie würde nichts finden, dachte Silva spöttisch.

Der Spott verflog wie Rauch im Sturm, als die Haustür mit einem ohrenbetäubenden Schlag aus den Angeln gerissen wurde. Silva wirbelte herum und das Hochzeitsfoto fiel vom Regal, wobei der Bilderrahmen in tausend Scherben zerbrach.

Kurz darauf fand sie sich Annabell gegenüber, deren Haare bedrohlich in dem unsichtbaren Wind ihrer Magie schwebten. Silva war so auf das Foto und ihre Erinnerung konzentriert gewesen, dass sie unter dem stetigen Prasseln des Regens nicht gehört hatte, wie Annabell angekommen war. Die lächelte überlegen, als sie Silvas erschrockenes Gesicht sah.

„Wie ich sehe, hast du dich dagegen entschieden, die Flucht zu ergreifen. Wie schön, dass du nach all den Jahren doch noch zur Vernunft gekommen bist. Und jetzt gib mir das, was mir schon von Anfang an zugestanden hat.“

Sie streckte herausfordernd die Hand aus und Silva, die bis eben noch geglaubt hatte, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, wich einen Schritt zurück. Annabell war schon immer herrisch gewesen und nur wenige Leute trauten sich, ihr einen Wunsch abzuschlagen. Bisher hatte sich Silva furchtlos gegen Annabells Forderungen gestellt. Doch nun lag eine Besessenheit in dem Blick der Hexe, die Silva fremd war. Und die Skrupellosigkeit, mit der Annabell ihr nun gegenüber trat, ließ Silva um ihre eigene Sicherheit bangen.

„Ich bin nicht geblieben, um dir den Silax zu geben“, erklärte Silva vorsichtig. Sie versuchte, so ruhig wie möglich zu bleiben, als sich Annabells Blick verfinsterte.

„Das muss ein Ende haben, Annabell.“

„Es wird ein Ende haben, hier und jetzt, wenn du mir den Silax nicht endlich aushändigst!“

Silvas Entschlossenheit kehrte zurück.

„Mit welchem Recht glaubst du, in mein Haus eindringen zu können und mir Forderungen zu stellen? Gibt es auf, Annabell! Der Silax ist zerstört. Du wirst ihn nie bekommen!“

Annabells Augen flackerten wild und sie zeigte Silva die Zähne. Sie glaubte ihr nicht. Silva versuchte es noch ein letztes Mal im Guten.

„Was ist nur aus dir geworden, Annabell?“, fragte sie leise. „Wir haben einmal an einem Strang gezogen, ein gemeinsames Ziel gehabt. Wann hast du beschlossen, dass die Hexen allen anderen überlegen sein sollten? Wann hast du angefangen, in Kauf zu nehmen, dass dazu ein Krieg notwendig ist?“

Annabell lachte boshaft.

„Das wusste ich schon immer. Und was aus mir geworden ist? Was ist nur aus dir geworden!? Du lebst in deiner perfekten kleinen Welt und bist zu einer langweiligen Hausfrau mutiert! Selbst einen widerlichen Sterblichen hast du geheiratet!“

Silva legte den Kopf schief.

„Und trotzdem habe ich mehr glückliche Jahre erlebt, als irgendjemand sonst in meinem Alter.“

Annabell schnaubte abfällig und erst jetzt fiel Silva auf, dass ihre Augen seltsam glimmten.

„Du hättest so viel Macht haben können, Silva! Der Silax ist eine Verschwendung an dich. Du hast ihn jetzt lange genug unter Verschluss gehalten. Aber würdest du auch sterben, um sein Geheimnis zu wahren?“

Annabell trat ein paar Schritte vor und Silva wich ihr aus, bis sie die Wand im Rücken spürte.

„Wenn es dazu dient, dass die Menschen, die ich liebe, in einer Welt leben können, in der es keine Rolle spielt, welcher Gattung sie angehören, dann ja. Denn solange es Menschen gibt, die sich nicht von Leuten wie dir einschüchtern lassen, gibt es noch Hoffnung. Hoffnung auf eine vereinte Nation.“

Annabell lächelte süffisant.

„Wie rührselig“, sagte sie boshaft. „Schade nur, dass du es nicht mehr erleben wirst, während ich noch weitere Chancen haben werde, meine Ziele zu verfolgen.“

Silva straffte die Schultern und funkelte zurück.

„Eines Tages wirst du einsehen, wie viel deiner eigenen Zeit du verschwendet hast, anstatt einfach glücklich zu sein. Und dann wirst du an mich denken.“

Annabells Augen verengten sich zu Schlitzen und das Glimmen darin war deutlicher zu sehen. Offensichtlich war das Gespräch für die Hexe beendet, denn Silva spürte, wie sich die Magie in Annabell anstaute. Die Luft um sie herum knisterte bereits.

Silva nahm Haltung an und wappnete sich ebenfalls. Entlang ihrer Hände und Finger züngelten kleine Flammen.

„Nimm doch Vernunft an, Annabell“, versuchte sie es ein letztes Mal. „Wir können beide unbeschadet auseinandergehen. Ich will nicht gegen dich kämpfen!“

Doch gleichzeitig sah sie, wie besessen Annabell von den Gedanken war, an Silva Rache zu nehmen. Rache für die vielen Jahre, die sie für die Suche nach dem Silax verschwendet hatte. Rache dafür, dass Silva sich von ihr abgewendet hatte. Rache dafür, dass Silva glücklich war. Und dann tat sie etwas, das Silva aufkeuchen ließ.

Entlang Annabells Händen schlang sich ihre Prana wie flüssig knisternde Magie. Doch dieses Mal funkelte sie nicht in den Silbertönen, die Silva kannte. Stattdessen leuchtete Annabells Prana in einem schmutzigen Blauton, und gleichzeitig konnte Silva die Macht spüren, die Annabell damit verliehen war. Annabell hatte sich Dämonenmagie bedient. Silvas Augen weiteten sich, während sich Annabells Mund boshaft verzog.

„Hast du wirklich geglaubt, ich würde dir einen fairen Kampf zugestehen?“, lachte sie, und noch während Silva versuchte, sich in Sicherheit zu bringen, brach die von den Dämonen geliehene Magie aus Annabell heraus.

Baal

Die Welt um ihn herum materialisierte sich langsam, nachdem Silva die Beschwörung aufgesagt und ihn und Chaz in die Unterwelt geschickt hatte. Er drückte den Jungen an sich, um besseren Halt zu finden, als seine Füße auf festen Boden trafen. Chaz quietschte vergnügt, als hätten sie gerade eine Achterbahnfahrt gemacht.

Wie immer erschienen die kahlen, holzvertäfelten Wände des Beschwörungsraumes in seinem Schloss. Aber dieses Mal war etwas anders. Baal roch den strengen Geruch im selben Moment, als er spürte, dass sie nicht alleine im Raum waren. Alarmiert drehte er sich um, doch da krachte bereits ein schwerer Gegenstand auf seinen Hinterkopf und die Welt verdunkelte sich. Noch bevor er auf dem Boden aufschlug, spürte er, wie Chaz aus seinen Armen gerissen wurde.

Baal stöhnte und kämpfte dagegen an, nicht das Bewusstsein zu verlieren. Gleißender Schmerz breitet sich aus und durchzog ausgehend vom Hinterkopf seinen Körper. Jemand hatte ihnen aufgelauert! Warmes Blut tröpfelte an seinem Nacken herab und als er sich aufsetzte, tanzten funkelnde Sternchen vor seinen Augen.

„Chaz!“, rief er und sprang auf. Wer auch immer hier im Beschwörungsraum auf sie gewartet hatte, er hatte es auf seinen Sohn abgesehen. Baal schnürte es vor Angst die Kehle zu, als er aus dem Raum hinaus in die Eingangshalle stürmte.

„Chaz!“, rief er nochmals und seine panische Stimme hallte zwischen den Marmorsäulen wieder. Wieso war niemand hier? Wo waren all seine Bediensteten? Und wo zur Hölle hatte man seinen Sohn hingebracht?

Vom Schlosshof erklangen Stimmen und Baal lief hinaus. Das Erste, was er sah, waren die meterhohen Stichflammen, die über den Ställen in den Himmel schlugen. Pferde liefen panisch über den Schlosshof, während seine Männer versuchten, den Brand unter Kontrolle zu bringen. Niemand bemerkte, dass der Fürst zurückgekehrt war. Und niemand achtete auf die Gestalt, die gerade aus dem Tor des Schlosshofes rannte und ein Kind auf dem Arm trug.

Baal wollte gerade die Verfolgung aufnehmen, als hinter dem Tor blaue Funken gen Himmel stoben. Kurz darauf hörte man ein ohrenbetäubendes Gebrüll, das selbst den letzten Mann auf dem Schlosshof innehalten und zum Tor sehen ließ.

Baal keuchte auf, als sich plötzlich ein gewaltiger Echsenleib mit grauen, ledrigen Flügeln in die Luft über dem Tor schwang. Messerscharfe Klauen blitzten im Licht des Pranahimmels und eine langgezogene Schnauze mit dornenartigen Zähnen öffnete sich. Der Drache brüllte noch einmal markerschütternd, bevor er in der Luft wendete und sich von der Burg entfernte. Baal blieb beinahe das Herz stehen, als er sah, dass der Drache Chaz in seinen Klauen hielt und mit sich nahm.

„Fafner!“, zischte er, und die ohnmächtige Wut, dass er nichts dagegen tun konnte, raubte ihm beinahe den Verstand. Er kannte den Drachen, oder besser den Dämon, der in ihm steckte. Es gab nur einen Dämon in der Unterwelt, der diese Gestalt so perfekt beherrschte. Fafner, Leviathans rechte Hand. Überaus begabt in der Biokinese und einer der wenigen Dämonen der Unterwelt, die ihre eigene Gestalt um ein vielfaches vergrößern konnten. Fafner mochte dumm wie Brot sein, aber seine Macht war nicht zu unterschätzen.

Baals Männer begannen, ihre Magie auf den geflügelten Dämon abzuschießen, um ihn aufzuhalten.

„Stopp!“, brüllte Baal. „Er hat Chaz bei sich!“

Die Männer hielten inne und mit betroffenen Gesichtern registrierten sie die Anwesenheit ihres Fürsten. Kisin löste sich aus der Menge, sein schockiertes Gesicht sprach Bände. Doch Baal hatte keine Zeit für Erklärungen. Er rannte an den Männern, die ihm bereitwillig Platz machten, vorbei zu den brennenden Ställen, schwang sich auf Caladrius, der sich nur kurz gegen den überraschenden Überfall wehrte, und stieß dem Dämonenvogel die Stiefel in die Flanken.

Caladrius stieß einen Schrei aus, nahm Anlauf und erhob sich in die Lüfte. Ein paar Männer, die Baal folgen wollten, sprangen zur Seite, als Caladrius mit weit ausgebreiteten Flügeln Anlauf nahm.

Mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit schoss der Vogel in den Nachthimmel und nahm mit Baal die Verfolgung auf. Von unten konnte er hören, wie Kisin Befehle gab, die Pferde zu satteln, doch Baal wusste, dass es vergebens war. Sie würden seine Spur verlieren, sobald die Dunkelheit ihn verschluckt hatte.

Caladrius hatte Mühe, dem Drachen zu folgen, der schon einen gewaltigen Vorsprung hatte und trotz seiner Größe nur noch als schemenhafte Gestalt am Himmel auszumachen war. Baal klammerte sich an den Hals der Kreatur und nur der verzweifelte Gedanke an seinen Sohn bewahrte ihn davor, in Panik zu verfallen. Er hasste die Höhe und zum ersten Mal flog er ohne Zaumzeug auf Caladrius. Aber wenn er jetzt aufgab, dann würde er Chaz vielleicht nie wieder sehen. Der Gedanke erschreckte ihn mehr als die Welt, die unter ihm immer kleiner wurde.

„Nun mach schon!“, flehte er Caladrius an, obwohl er wusste, dass der Vogel sein Äußerstes gab. Wie lange konnte er durchhalten? Würde er ermüden, bevor Fafner gelandet war?

In der luftigen Höhe peitschte ihm der warme Wind ins Gesicht und Baal spürte, wie seine Hände verkrampften. Ob aus Angst um Chaz oder durch die Anstrengung, sich an Caladrius festzuhalten, vermochte er nicht zu sagen.

Er stieß einen erleichterten, beinahe verzweifelten Laut aus, als Fafner scheinbar endlich an Höhe verlor und eine Ruine ansteuerte, die Baal bekannt war.

Das einstige Schloss hatte vor langer Zeit einem Fürsten gehört, bevor dieser im Krieg gefallen und das Land an Baal übergegangen war. Da er die kleine Burg mangels Personal danach nicht wieder besetzt hatte, war sie, wie so viele andere Gebäude der Unterwelt, dem Zerfall überlassen.

Baal zweifelte nicht daran, dass sich Leviathan hier niedergelassen hatte und die Entführung seines Sohnes ein weiterer Versuch war, Baal zu stürzen. Vielleicht wollte er ihn erpressen? Das zumindest gab Baal Hoffnung, seinen Sohn lebend vorzufinden.

Doch dieses Mal war Leviathan zu weit gegangen. Baal kochte vor Wut, als Caladrius vor dem Tor landete, durch das man Fafner hineingelassen hatte und das nun wieder verschlossen war.

Aus der Nähe betrachtet konnte man gut erkennen, welche Spuren die Zeit und die Witterung an der Burg hinterlassen hatten. Der Stein war schwarz und bröckelig. Ganze Türme der Burg waren bereits eingestürzt und schwarzes Moos wuchs an den Mauern hinauf, als wolle es versuchen, die Festung zu verschlingen. Baal stieg von Caladrius herunter und seine Magie brodelte in ihm. Er würde sich nicht beherrschen können, selbst wenn er es versuchte. Die Angst um sein Kind raubte ihm beinahe den Verstand und zum ersten Mal in seinem Leben hatte Baal keine Kontrolle mehr über seine Gefühle.

Auf den Zinnen über dem Tor erschien eine Gestalt, ein Lakai Leviathans, um mit Baal zu verhandeln, wie er vermutete. Baal wurde keinen Schritt langsamer und ignorierte die Rufe des Mannes. Mit einem Wink seiner Hand beschwörte er einen Feuerball, der so viel Kraft hatte, dass das Tor aus den Angeln gesprengt wurde. Der Mann auf den Zinnen schrie und stürzte auf der anderen Seite in die Tiefe, als der Stein barst.

Baal knurrte, als sich ihm ein paar Männer in den Weg stellten. Es kostete ihn nur ein Augenzwinkern, um einen Wind heraufzubeschwören, der sie beiseite wehte. Ihre Körper klatschten an die gegenüberliegende Mauer und das abscheuliche Geräusch brechender Knochen mischte sich unter ihre Schreie. Baal war es egal. Die Wut, die ihn erfasst hatte, war allgegenwärtig.

Innerhalb von Sekunden füllte sich der Burghof und Baal sah sich umzingelt von Dutzenden Dämonen. Sie blickten ihn abwartend an, mit erhobenen Waffen oder bereit, ihn mit Magie zu überwältigen.

Aber für Baal war eine Grenze überschritten. Er gedachte nicht daran, sich abführen zu lassen. Er wollte kein Verhandlungsgespräch oder Bedingungen für die Freilassung seines Sohnes hören. Sie hatten es gewagt, sein Kind zu entführen. Dafür würden sie büßen. Er würde ein für alle mal dafür sorgen, dass es nie wieder jemand wagen würde, Hand an seine Kinder zu legen.

Statt aufzugeben, ließ er seiner Wut einfach freien Lauf und hielt die Magie, die aus ihm auszubrechen drohte, nicht weiter zurück. Der erste Dämon, der seine Absichten erkannte und sich auf ihn stürzte, wurde mit einem Feuerball quer über den Hof geschleudert. Nun griffen auch die anderen an und die Hölle brach aus.

Magie sirrte durch die Luft, Flammen schlugen gen Himmel und Mauern barsten. Baal kämpfte um sein Leben und um das seines Sohnes. Seine Angst um Chaz gab ihm unentwegt Kraft und er schleuderte Magiekugeln beinahe ebenso schnell, wie er den Geschossen seiner Feinde auswich.

Baal war in seiner Kindheit bestens geschult worden und hatte eine harte Kampfausbildung genossen. Er bewegte sich so elegant und flink, wie man es ihm beim ersten Anblick nie zugetraut hätte. Man sah den Dämonen an, dass sie bis zu diesem Zeitpunkt geglaubt hatten, Baal als Politiker wäre ein leichtes Opfer. Diesen Irrtum bezahlten einige von Leviathans Männern mit dem Leben.

Baal sprang hinter einem achtlos stehengelassenen Holzkarren in Deckung, nur um sofort wieder zum Angriff überzugehen, als der Blitz, der ihm gegolten hatte, das Gefährt zu Kleinholz verarbeitete.

Einige Dämonen, deren magische Fähigkeiten nicht so ausgeprägt waren, hatten zu Schwertern und Speeren gegriffen. Baal setzte die Ferrokinese ein, um das Metall zu beeinflussen und die Waffen gegen ihre Besitzer zu richten. Die Dämonen keuchten auf und kämpften dagegen an, von ihren eigenen Schwertern aufgespießt zu werden.

Baal spürte einen Anflug von Genugtuung, als er die Angst im Gesicht der Männer sah, die ihre eigenen Waffen nicht mehr unter Kontrolle hatten. Jetzt bekamen sie einen Eindruck davon, was es bedeutete, sich mit einem Dämonenfürsten anzulegen. Die meisten Dämonen hatten nur eine vage Vorstellung, wie viel Macht nötig war, um als Fürst zu gelten. Nun bekamen sie eine Kostprobe davon und Baal konnte die Ungläubigkeit in ihren Augen sehen, als er sich alleine gegen knapp fünfzig Dämonen behauptete.

Der Kampf schlauchte ihn, doch noch hatte er genügend Reserven. Er wechselte immer wieder seine Angriffstaktik, um unberechenbar zu bleiben. Mal zog er eine Mauer aus Eiszapfen hinter sich hoch, um eine Art Schild zu schaffen, mal blendete er seine Gegner vor sich, indem er einen kleinen Sturm erschuf und Sand aufwirbelte. Dann wieder beschwor er Feuer und Eis, oder lähmte seine Gegner mit der Telekinese. Nach und nach fielen Leviathans Männer. Auf dem Burghof herrschte das reinste Chaos.

Doch schließlich passierte das, was unvermeidlich war. Baal wurde von einer Magiekugel getroffen und zu Boden geworfen. Er biss die Zähne zusammen und ignorierte den Schmerz, der durch seine Adern schoss, rollte sich ab und streckte den Angreifer mit einem Magiegeschoss seinerseits nieder.

Doch der Moment, indem er seine Deckung aufgegeben hatte, reichte aus, um die anderen Dämonen näher an ihn heranzuführen. Zu nah.

Baal übersah den geflügelten Dämon, der sich von oben herabstieß und wie ein Erzengel sein Schwert auf Baal niedersausen ließ. Nur durch eine Drehung in letzter Sekunde konnte Baal verhindern, dass das Schwert ihm in den Nacken gerammt wurde. Stattdessen spürte er einen scharfen Schmerz an der Schulter, wo die Klinge zentimetertief eindrang. Blut durchtränkte sein T-Shirt, während Baal den Dämon packte und mit einem Handgriff die Flügel brach.

Er durfte keine Schwäche zeigen, sonst war alles verloren. Doch die Verletzung und der harte, andauernde Kampf zollten nach und nach ihren Tribut. Baal verlor an Schnelligkeit und musste immer mehr Treffer einstecken. Ein Feuerball versengte ihm die Haare über dem Ohr, ein anderer Dämon traf ihn mit seiner Magie und knisterndes Eis überzog sein Bein. Baal verhinderte nur durch gezielte Lenkung der Pyrokinese an die betroffene Stelle, dass es gänzlich einfror und letzten Endes zerschmettert wurde.

Jeder Muskel seines Körpers schmerzte durch die Anstrengung und die Magieschläge, die er einkassierte. Doch aufgeben kam nicht infrage. Selbst wenn es nicht seinen Tod bedeuten würde, so könnte er doch nie mit dem Gedanken leben, seinen Sohn nicht gerettet zu haben. Seine Familie war alles, was zählte. Also kämpfte er unerbittlicher als jemals zuvor in seinem Leben. Er ertrug mehr Schmerzen, als er jemals auszuhalten geglaubt hatte. Ein Leben lang hatte er sich in Beherrschung geübt, doch in dieser Situation gab er jegliche Kontrolle über sich selbst ab. Er funktionierte nur noch. Er würde kämpfen bis zum letzten Atemzug.

Schließlich sank er entkräftet auf die Knie. Er rang nach Luft und dieses Geräusch erfüllte die plötzlich eingetretene Stille, die auf dem Burghof lastete. Nach dem Lärm des Kampfes war die Ruhe beinahe erdrückend.

Baal brauchte einige Augenblicke, bis er nicht mehr das Gefühl hatte, zu ersticken. Sich trotz aller Schmerzen zu erheben, kostete ihn alle Willenskraft.

Sein Körper war übersät mit Prellungen und Schürfwunden, sein linker Arm war momentan unbrauchbar und hing schlaff herab. Die Wunde, die das Schwert an seiner Schulter hinterlassen hatte, blutete unentwegt. Seine Kleidung war zerrissen und schmutzig. Und trotzdem hatte Baal nichts von seiner anmutigen Eleganz verloren, als er erhobenen Hauptes über den Hof auf das Schlossportal zulief, vorbei an den toten oder ohnmächtigen Dämonen, die er besiegt hatte. Dämonen, die seiner Wut nicht gewachsen waren. Dämonen, die sich zwischen ihn und seinen Sohn gestellt hatten.

Noch während er die Gänge der Festung durchquerte, beruhigte sich sein schwerer Atem. Trotzdem sah er nicht nur mitgenommen aus, er fühlte sich auch wie erschlagen. Ein Großteil seiner Magie war aufgebraucht und die Verletzungen schränkten seine Bewegungen ein. Ohne Zweifel käme das Leviathan zugute, dessen Kräfte denen Baals bisher immer unterlegen gewesen waren.

Baal wusste, dass er hätte umkehren sollen, um auf Kisin und die Verstärkung zu warten. Aber jede Minute, die er Chaz in Leviathans Gewalt ließ, schmerzte ihn mehr als jede seiner Verletzungen.

Er stieß ein großes Tor auf und gelangte auf einen Innenhof, der besetzt war von einem Dutzend Dämonen, die an den Wänden aufgereiht Wache standen.

Lautes, ungläubiges Gemurmel ertönte, als die Dämonen ihn sahen. Offensichtlich hatte niemand damit gerechnet, dass er es bis hierher schaffen würde.

Baal warf finstere Blicke in die Runde und trat in die Mitte des Schlosshofes, von wo aus er einen guten Blick auf den steinernen Sitz am anderen Ende des Platzes hatte.

Dort thronte Leviathan, sein ältester Erzfeind. Bei seinem Anblick ballte Baal die Hände zu Fäusten. Leviathan war eher von schmächtiger Statur und wirkte mit dem braunen Haar und dem ebenmäßigen Gesicht eher unscheinbar, was zusätzlich noch durch den maßgeschneiderten Anzug unterstrichen wurde. Doch Baal wusste, dass das Aussehen täuschte. Leviathan war ebenfalls ein Dämonenfürst, dessen Kräfte nicht zu verachten waren. Seit Jahren bereitete er Baal Probleme und Leviathans Ehrgeiz, einmal die Stadt Ignis Tenebris einzunehmen, wurde nur durch seine Skrupellosigkeit übertroffen.

Nur die für einen Moment geweiteten, kalten Augen verrieten Leviathans Überraschung über Baals Erscheinen, doch sein Gesicht wandelte sich augenblicklich wieder zu der emotionslosen, steinernen Maske. Trotzdem hatte Baal noch eine Spur Unsicherheit, wenn nicht sogar Angst in dem Blick seines Feindes wahrgenommen.

„Ich muss zugeben, ich habe nicht erwartet, dass du so schnell den Weg zu mir findest“, gab Leviathan mit schnarrender Stimme zu. „Du kannst wohl kaum in dieser kurzen Zeit deine Armee mitgebracht haben. Mit was hast du meine Männer erpresst, damit sie dich zu mir lassen?“

Baal blickte kalt zurück.

„Mit gar nichts. Sie sind tot.“

Nur das Auf und Ab von Leviathans Kehlkopf verriet dessen Unmut.

„Sieh an“, entgegnete er leise. „In unserem Fürsten steckt doch noch etwas Skrupellosigkeit, wer hätte das gedacht?“

Baal ignorierte den Einwurf und trat fordernd einen Schritt vor.

„Schluss mit dem Geplänkel. Wo ist mein Sohn?“

Leviathan hob beschwichtigend beide Hände.

„Keine Sorge, deinem Spross geht es gut“, schnurrte er gedehnt und deutete auf einen aus morschen Hölzern gezimmerten Käfig in der Ecke des Innenhofes, vor dem Fafner, mit seinem gebückten Gang und dem Buckel in der Größe eines Medizinballes, Wache stand.

Der Käfig war leer.

„Was soll das?“, fragte Baal bedrohlich, doch Leviathan schien ebenso überrascht zu sein wie er. Einen Moment herrschte Stille.

„Findet den Jungen!“, raunte er Fafner zu und jetzt war Leviathan die Unsicherheit deutlich anzumerken. Offensichtlich lief hier etwas überhaupt nicht nach seinem Plan. Baal versuchte sich verwirrt einen Reim darauf zu machen. Hatte jemand in Leviathans Reihen seinen Sohn weggebracht? Ohne, dass der Fürst es bemerkt hatte? Was wurde hier gespielt?

Mit zusammengekniffenen Augen sah er Fafner dabei zu, wie er den Käfig aufschloss und selbst hinein ging, als könne er Chaz damit finden. In diesem Moment bemerkte Baal ein Flimmern, das sich an Fafner vorbeischob. Nur mit Mühe schaffte er es, nicht laut nach Luft zu schnappen. Chaz war gar nicht verschwunden. Wie auch immer es der Junge in seinem Alter hinbekommen hatte, er hat es tatsächlich geschafft, sich beinahe unsichtbar zu machen. Baal unterdrückte seine Verblüffung so gut es ging.

Er hatte schon einmal von dieser Fähigkeit gehört, doch nie einen Dämon kennengelernt, der dieses Zusammenspiel von Magie tatsächlich beherrschte. Es erforderte viel Können im Bereich der Biokinese, seine Zellen so zu verändern, dass sie sich der Luft anpassten und der Körper beinahe unsichtbar wurde. Offensichtlich hatte sein Sohn sein Spezialgebiet gefunden.

Baal hielt unwillkürlich die Luft an, als sich das Flimmern abermals bewegte und aus dem Käfig schlüpfte. Dann wandte er schnell den Blick ab, um keine Aufmerksamkeit auf Chaz zu lenken, bis der Junge außer Reichweite des verfluchten Fafners war, dem Baal alles zutraute.

„Was willst du, Leviathan?“, knurrte Baal daher, um die allgemeine Aufmerksamkeit wieder auf sich selbst zu lenken. „Hattest du vor, mich mit meinem Sohn zu erpressen, damit ich dir Ignis Tenebris überlasse?“

Leviathan wirkte für einen Moment verwirrt, riss aber schließlich den Blick von dem leeren Käfig und musterte Baal abschätzig, als hätte der irgendetwas mit dem Verschwinden des Jungen zu tun.

„Ignis Tenebris ist schon lange nicht mehr mein Ziel“, erklärte er gleichgültig. Baal runzelte die Stirn und heuchelte Interesse, während er aus den Augenwinkeln versuchte, Chaz ausfindig zu machen.

Wo war der Junge? Wenn es zu einem Kampf kam, durfte Chaz keinesfalls in die Schusslinie geraten. Überhaupt stellte sich Baal die Frage, wie sie aus dieser aussichtslosen Situation wieder entkommen sollten. Seine Kräfte waren beinahe am Ende, und auch wenn er es bisher gut hatte verbergen können, spätestens im Kampf würde er Leviathan und seinen Männern unterliegen. Er musste sich etwas einfallen lassen, doch dafür benötigte er Zeit!

Doch etwas an Leviathans Worten bereitete ihm ein ungutes Gefühl.

„Wozu dann das Ganze?“, hakte Baal misstrauisch nach. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Leviathan schien weder darauf aus zu sein, Baal zu töten, noch ihn zu erpressen. Beinahe hatte er das Gefühl, gar nicht die Hauptfigur in diesem Schachspiel zu sein.

Leviathan musterte Baal, als wäre er nicht sicher, ob er darauf antworten sollte. Dabei blieb sein Blick an dem blutdurchtränkten T-Shirt seines Erzfeindes hängen und auch Baals schwerer Atem schien ihm nicht entgangen zu sein, denn plötzlich breitete sich ein boshaftes Lächeln auf Leviathans Gesicht aus.

„Du bist verletzt“, stellte er zufrieden fest und seine Augen funkelten besorgniserregend. „Damit tun sich tatsächlich ganz neue Möglichkeiten auf. Aber um deine Frage zu beantworten: Der einzige Grund, wieso du hier bist, ist, damit du mir an anderer Stelle nicht im Weg stehst.“

Baal erstarrte, während sich seine Gedanken überschlugen. Die einzigen Orte, in denen er sich für gewöhnlich aufhielt, waren die Stadt Ignis Tenebris, an der Leviathan augenscheinlich momentan kein Interesse hatte, sein Schloss, in dem er sich seit Tagen nicht mehr hatte blicken lassen, und …

„Silva“, flüsterte Baal und kaltes Entsetzen lähmte ihn.

Leviathans Mund verzog sich zu einem Grinsen.

„Hast du wirklich geglaubt, du könntest den Silax für dich alleine beanspruchen?“, krächzte Leviathan boshaft.

Baal traute seinen Ohren kaum.

„Annabell. Sie handelt in deinem Auftrag“, reimte er sich zusammen und hatte Mühe, die Wut, die abermals aufkeimte, zu zügeln. Leviathan mochte tatsächlich kein Interesse mehr an Ignis Tenebris haben. Er hatte sich ein neues Ziel gesetzt. Die Realität.

„Du kannst dir nicht vorstellen, welch glückliche Fügung mich ereilt hat, als sie mich vor ein paar Jahren das erste Mal beschwor“, freute sich Leviathan diebisch und weidete sich an Baals Entsetzen. „Wie du sicher weißt, haben die zwei Hexen den Tempel der Heilung gefunden, allerdings war deine Frau schneller und hat den Silax an sich genommen.“

Baal vergaß alles um sich herum und starrte Leviathan an.

„Du warst das damals im Tempel. Du hast das Volk abgeschlachtet wie Vieh.“

Verbittert ballte er die Fäuste, als Leviathan gleichgültig nickte.

„Natürlich war ich es. Ich habe den erstbesten Fehler ausgenutzt, um dem Kreis zu entkommen und den Silax an mich zu reißen. Aber König Piru hat es irgendwie geschafft, ihn verschwinden zu lassen und sich selbst ins Jenseits zu schicken. Schade, denn es hätte mir viel Freude bereit, den Aufenthaltsort des Silax aus ihm heraus zu foltern. Die Wut darüber hat das Volk zu spüren bekommen. Allerdings hat mich einer der Templer in eine Falle gelockt und zurückgeschickt, noch während ihm das Blut aus dem Mund lief. Und so musste ich mich damit abgeben, wieder ein Augenmerk auf Ignis Tenebris zu werfen, wenn mir die Realität schon verwehrt blieb. Doch dann kam vor ein paar Jahren die Wendung, als mich diese Hexe aus der Realität beschworen hat. Sie hatte tatsächlich Bruchstücke aus dem Tempel gefunden und das Ritual nachgestellt. Leider hatte auch sie den Silax nicht bei sich. Doch vor Kurzem hat sie etwas Interessantes erwähnt. Einen Namen, der mir bekannt vorkam. Kannst du dir denken, welchen?“

Baal wusste es.

„Sie hat sich als ziemlich nützlich herausgestellt und nachdem ich ihr verraten habe, dass ihre einstige Freundin Silva den Silax nicht zerstört hat, war sie kaum noch zu bremsen. Ich musste nur noch dafür sorgen, dass du ihr nicht auch noch in die Quere kommst, daher unser kleines Ablenkungsmanöver. Wenn ich richtig liege, dürfte sie den Silax längst in den Händen halten und mich jeden Moment in die Realität entlassen. Sag mir, wie ist die Luft dort, wenn man nicht nur als Schatten seiner selbst dort auftauchen kann? Für dich muss es wie Urlaub gewesen sein.“

Baal versuchte die lähmende Angst, die er plötzlich um Silva hatte, zu unterdrücken.

„Silva wird sich nicht von Annabell kleinkriegen lassen“, sagte er mehr zu sich selbst, als zu Leviathan. „Sie sind sich ebenbürtig.“

Leviathan lachte plötzlich schallend und brachte Baal damit beinahe um den Verstand.

„Sind sie das? Hast du Silva ebenfalls die Macht der Dämonen geliehen?“

Baal taumelte, als die Erkenntnis ihn traf, in welch eine Falle er geraten war. Er hatte Silva alleine in der Realität gelassen. Bei Annabell, die für eine kurze Zeit über dämonische Kräfte verfügte.

Leviathan sah, wie Baal für einen Augenblick die Kräfte verließen, und nutzte die Gelegenheit, auf die er so viele Jahre gewartet hatte. Und natürlich ließ er sich die Chance nicht entgehen, zuzuschlagen, wenn Baal seiner Kräfte beraubt war.

„Tötet ihn!“, befahl er seinen verbliebenen Wachmännern knapp. Baal spannte alle Muskeln an, bereit, sich zu wehren. Doch bevor die Männer etwas tun konnten, sah Baal erneut das Flimmern der Luft, dieses Mal direkt hinter Leviathan. Plötzlich ging der Fürst in Flammen auf! Eine riesige Stichflamme schlug gen Himmel und hüllte Leviathan ein, der wie am Spieß zu schreien begann. Das Feuer ging auf seine Kleidung über, versengte seine Haare und verbrannte seine Haut.

Baal zögerte keinen Moment und nutzte die Ablenkung, um nach vorne zu stürzen und seinen Sohn zu packen, der sich gerade wieder materialisierte und zufrieden auf den in Flammen stehenden Leviathan blickte, dessen Schreie die Luft zerrissen.

Baal schlang die Arme um seinen Sohn und schützte ihn mit seinem Körper, als die Wachmänner sich aus ihrer Erstarrung lösten und zum Angriff übergingen. Die Panik um die Sicherheit seines Sohnes verlieh Baal neue Kräfte und im letzten Augenblick beschwor er einen Feuerstrudel, der sich im Kreis um ihn und Chaz drehte und von den anderen Dämonen abschirmte.

„Caladrius!“, rief er aus vollster Kehle und betete inständig, dass der Vogel ihn hören würde, bevor er zusammenbrach. Den Feuerkreis aufrecht zu halten, nahm ihm mehr von seiner verbliebenen Energie, als er gedacht hatte. Er spürte bereits, wie ihn die Kräfte verließen. Jeden Moment würde dieses letzte bisschen Schutz versiegen und sie wären den Angriffen der Dämonen ausgeliefert.

Doch da ertönte der rettende Schrei des Dämonenvogels, der mit bahnbrechender Geschwindigkeit am Himmel erschien und den Geschossen der Dämonen auswich. Im selben Moment, als Baals Magie versiegte, packte Caladrius ihn bei den Schultern und hob ihn zusammen mit Chaz in den Himmel. Weg von den Dämonen, von denen einige versuchten, Leviathans flammende Kleidung zu löschen und der Rest missmutig hinter Baal, Chaz und Caladrius hinterher sah.

Caladrius landete in sicherer Entfernung zu Leviathans Burgruine, keine Sekunde zu früh, denn Baal verließen die letzten Kräfte und er hatte bereits Mühe gehabt, Chaz nicht fallen zu lassen. Kurz darauf hörten sie Pferdehufe und Kisin kam mit Baals Männern an.

Der Freund und Vertraute gab sofort Anweisung, seinen Fürsten und dessen Sohn zurück ins Schloss zu bringen, während Baal auf dem Weg dorthin immer wieder das Bewusstsein verlor. Doch nach und nach füllte sich sein leerer Magiespeicher wieder auf, wenn auch langsam. Und da war immer noch die Sorge um Silva, die ihn immer wieder Kisins Angebot einer Pause ablehnen ließ und ihn weiter antrieb, durchzuhalten.

Der Weg zurück zu seinem Schloss kam Baal endlos lange vor. Wie lange war er jetzt schon in der Unterwelt? Es mussten mehrere Stunden vergangen sein. Silva hatte nicht versucht, ihn zu beschwören. Eine dunkle Vorahnung überkam ihn, doch er weigerte sich, den Gedanken zu Ende zu denken.

Auf dem Burghof seines eigenen Schlosses wartete Jenna bereits und schnalzte mit der Zunge im Angesicht seiner Verletzungen. Doch bevor sie ihn behandeln konnte, wehrte Baal ab und drückte ihr Chaz in die Arme.

„Kümmere dich um ihn. Er war heute sehr, sehr tapfer und hat mir das Leben gerettet. Ein richtiger kleiner Held!“

Er wuschelte Chaz durch das hellblonde Haar und der kleine Junge ließ ein stolzes, glockenklares Lachen verlauten.

„Ich bin bald wieder zurück“, versprach er seinem Sohn und eilte dann ins Schloss, wobei er in Gedanken bereits versuchte, Kontakt zu Cassandra aufzunehmen.

Baal

Die Wartezeit, bis Cassandra ihn endlich beschwor, kam ihm wie eine Ewigkeit vor. In den endlosen Minuten, in denen er versuchte, sie zu kontaktieren, malte er sich die schrecklichsten Szenarien aus. Silva, wie sie gegen Annabell kämpfte, die so viel stärker sein musste, wenn Leviathan sie mit Dämonenmagie gestärkt hatte. Hatte sie einen Ausweg finden können? Er hatte Annabell bei einem ihrer energischen Besuche kennengelernt. Sie hatte ihn schon immer abgestoßen, mit ihrer fordernden, herrischen Art. Während Silva diese Güte ausstrahlte, die ihn von Anfang an so fasziniert hatte, war Annabell das genaue Gegenteil seiner Frau. Sie hatte etwas Skrupelloses, Bösartiges an sich, das den meisten Dämonen, die er kannte, durchaus das Wasser reichen konnte.

Die Frage, wie weit sie gehen würde, um ihre Ziele zu erreichen, brauchte er sich gar nicht stellen. Und genau das war der Punkt, der ihn um die Sicherheit seiner Frau bangen ließ.

Wie hatte er Silva nur alleine lassen können? War ihr etwas zugestoßen? Noch immer hoffte er, dass Silva einen Weg gefunden hatte, sich zu retten. Dass sie ihn gleich mit ihrem typischen, warmherzigen Lächeln begrüßen würde, wenn er sich in der Realität materialisierte. Dass alles gut werden würde.

Aber da war dieses beklemmende Gefühl in seiner Brust, das ihn nicht wieder losließ. Diese dunkle Vorahnung, dass etwas Schreckliches passiert war. Er betete inbrünstig, dass er sich irren mochte.

Dann endlich spürte er den vertrauten Sog in der Magengegend, als er die Welten wechselte und in Cassandras Beschwörungskreis gerufen wurde.

Ein Blick in die geröteten Augen der Hellseherin, die die kleine Jill auf dem Arm hatte, genügte. Baal sank in Zeitlupe zu Boden, als ihn sämtliche Kräfte verließen. Erst nach und nach schlug die Erkenntnis wie eine Welle über ihm zusammen, die ihn erdrückte.

„Es tut mir so leid“, flüsterte Cassandra erstickt, aber Baal nahm die Welt um sich herum gar nicht mehr wahr. Alles begann sich zu drehen und Cassandras Stimme, die ihm schluchzend erklärte, was passiert war, drang nur noch gedämpft zu ihm durch. Das konnte nicht wahr sein. Hier musste es sich um einen Alptraum handeln, aus dem er gleich erwachen würde.

Doch nichts dergleichen passierte. Der Schmerz blieb und drohte ihn zu ersticken. Das Brennen in seiner Brust wurde unerträglich. Baal presste die Hände vor sein Gesicht und schmeckte etwas Salziges. Waren das Tränen? Hatte er je zuvor in seinem Leben schon einmal geweint?

Ein verzweifelter Schluchzer entfuhr seiner Kehle und seine Schultern zitterten unkontrolliert. Silva! Wie sollte er ohne sie leben? Sie war zu seinem Lebensinhalt geworden! Sie hatte ihm gezeigt, was es bedeutete, glücklich zu sein. Und nun war sie fort. Man hatte sie ihm einfach entrissen. Dieses Gefühl war nicht auszuhalten, es zerfraß ihn von innen heraus! Er musste irgendetwas tun, schreien, fortlaufen, irgendetwas, damit dieser Schmerz verschwand.

Er spürte eine tröstende Hand auf der Schulter und roch Cassandras intensiven Duft nach Flieder. Doch auch sie vermochte ihn nicht aus diesem Zustand größter Verzweiflung zu holen. Er würde es nicht länger ertragen können! Dieses Gefühl würde ihn zugrunde richten.

Plötzlich strichen ihm zwei Patschehändchen über das tränennasse Gesicht und klammerten sich an seinen Hals. Baal sah wie durch einen Schleier auf seine Tochter, die ihn mit großen, leuchtend grünen Augen ansah. Dieselben Augen, wie Silva sie hatte.

Jill lächelte, als sie nun die Aufmerksamkeit ihres Vaters hatte, und schmiegte sich an seine Schulter. Baal drückte sie fest an sich und wiegte sanft vor uns zurück, während er tröstende Worte murmelte, die eigentlich ihm selbst galten.

„Es wird irgendwann erträglicher“, sagte Cassandra leise und griff nach seiner freien Hand. Eine Träne lief an ihrer Wange herab. Baal konnte nicht sprechen und kniete weiterhin auf dem Boden. Nie zuvor hatte er sich so verloren gefühlt.

„Sie hatte keine Schmerzen, als es passiert ist.“

Baal blickte in die traurigen Augen der Hellseherin. Er brauchte mehrere Anläufe, bevor er seine Stimme wiederfand.

„Woher willst du das wissen?“, fragte er erstickt.

„Weil sie es mir gesagt hat.“

Baals Blick klebte hoffnungsvoll an ihren Lippen, doch gleichzeitig schüttelte er ungläubig den Kopf. Was sollte das bedeuten? War Silva ein Geist? Bedeutete das, dass er über Cassandra vielleicht Kontakt zu ihr aufnehmen konnte?

Die Hellseherin seufzte leise, als sie die unausgesprochene Frage in seinem Blick sah.

„Nein, sie ist kein Geist. Sie ist nicht mehr hier. Aber es gibt da diesen Moment, nachdem die Seele den Körper verlassen hat und bevor sie ins Jenseits übergeht.“

Cassandra deutete auf ihre Kette, in deren Einfassung ein Stein eingelassen war und die es ihr und Silva ermöglicht hatte, besser Kontakt zueinander herzustellen.

„Silva trug das Gegenstück dieser Kette zum Zeitpunkt ihres Todes. Nur dadurch konnte sie über diese Entfernung eine Verbindung zu mir herstellen. Sie hat mir eine Nachricht für dich hinterlassen, bevor sie ins Licht getreten ist.“

Cassandra überreichte Baal einen zusammengefalteten Zettel. Fassungslos starrte er darauf, ohne sich überwinden zu können, ihn zu lesen.

„Sie muss Angst gehabt haben…“, begann er, und der Gedanke daran schürte wieder die Verzweiflung, die ihn gepackt hatte. Cassandra drückte seine Hand.

„Nein Baal, hör auf, dir den Tod als etwas Schreckliches vorstellen zu wollen. Schrecklich ist es nur für uns, die hier verbleiben und mit dem Verlust umgehen müssen. Silva hat ihren Frieden gefunden. Angst, Verzweiflung, all die negativen Gefühle, die uns Menschen heimsuchen, gibt es für sie nicht mehr. Alles, was am Ende bleibt, sind das Glück und die Liebe.“

Die weisen Worte der Hellseherin waren wie ein Rettungsanker für Baal, an den er sich klammerte, um nicht zu ertrinken.

„Lass dir Zeit, bis du soweit bist“, riet Cassandra. Baal nickte stumm, während Jill auf seinem Arm zu zappeln begann. Entmutigt sah er auf seine Tochter, die Silvas Kette mit dem Silax um den Hals trug.

„Was soll ich jetzt tun?“, fragte er erstickt, ohne zu erwarten, dass Cassandra eine Antwort auf die Frage hatte, die ihn selbst gerade so überforderte.

„Du wirst zurück in die Unterwelt gehen und trauern“, riet sie ihm. „Es wird einige Zeit dauern, bis es besser wird, aber irgendwann lernt man, mit dem Schmerz umzugehen.“

Momentan glaubte Baal nicht daran, dass dieser Schmerz jemals verebben würde. Aber was blieb ihm anderes übrig? Er musste doch für seine Kinder da sein.

„Lass Jill bei Amalia“, sagte die Hellseherin plötzlich zu seiner Überraschung. Baal starrte sie an, doch Cassandra schien sich bereits Gedanken darüber gemacht zu haben.

„Jill ist noch zu klein, um zu verstehen, was passiert ist. Amalia liebt dieses Kind, als sei es ihr eigenes. Hier hat sie die Chance, ein normales Leben als Hexe zu führen, bis sie soweit ist, die Wahrheit zu erfahren. Chaz ist für die Unterwelt gemacht, er wird sich anpassen. Aber Jill? Erspare ihr eine Kindheit in einer Welt, in der sie sich als Außenseiterin fühlt. Die Unterwelt ist zu gefährlich für sie.“

So, wie es schlussendlich auch für Silva zu gefährlich war. Baal drückte seine Tochter an sich.

„Wie könnte ich mein Kind hergeben, wo ich gerade erst Silva verloren habe?“, fragte er, obwohl er insgeheim wusste, dass an Cassandras Worten etwas Wahres dran war. Wie sollte er als Fürst eines ganzen Landstriches der Unterwelt zwei Kinder großziehen, von denen eines in der Unterwelt und das andere in der Realität besser aufgehoben war?

Cassandra lächelte wissend.

„Oh, du wirst sie wiedersehen. Ihr werdet noch viel Zeit miteinander verbringen. Ich vermag nicht ihre ganze Zukunft zu sehen, doch ich weiß, dass sie Großes leisten wird.“

Baal sah auf seine Tochter herab, die gerade ausgiebig gähnte. Betrübt drückte er ihr einen Kuss auf die Stirn.

„Es ist nicht fair, dass sie ohne Eltern aufwachsen muss, während Annabell…“

Ihm versagte die Stimme, doch dieses Mal, weil er von einer Woge der Wut überschwemmt wurde.

„Nein, es ist nicht fair. Doch Annabell wird ihre Strafe erhalten, ebenso wie Leviathan. Aber das wird nicht durch deine Hand passieren“, entgegnete Cassandra, die ebenfalls auf Jill herabblickte. „Vertraue den Worten einer Hellseherin. Sie werden den Tag bereuen, an dem sie beschlossen haben, euer Familienglück zerstört zu haben.“

Es war nur ein kleiner Trost, doch Baal klammerte sich daran, während er die nächsten Stunden versuchte, seine Fassung wiederzuerlangen. Irgendwann war er soweit, sich von Cassandra zurück in die Unterwelt schicken zu lassen. Der vorläufige Abschied von seiner Tochter kostete ihn mehr Überwindung als je etwas zuvor in seinem Leben. Doch da war auch noch Chaz, der auf ihn wartete.

Und so wechselte Baal erneut die Welten. Bevor er sich allerdings der Aufgabe stellen musste, den Schlossbewohnern den Tod seiner Frau beibringen zu müssen, nutzte er den Moment, den er im Beschwörungsraum seiner Festung für sich alleine hatte. Mit zitternden Fingern öffnete er das zusammengefaltete Stück Papier, das ihm Cassandra gegeben hatte. Silvas Nachricht an ihn. Ihre letzten Worte. Ihr Abschied.

„Es ist nur eine weitere Welt, die ich erkunden darf. Bis wir wieder vereint sind.“

Ende